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Dossier Neu Normal II

Wissen, wo’s langgeht?

Ein subjektiver Blick in die Glaskugel mit Neurowissenschaftler Dr. Klaus Holthausen, Kommunikationsexperte Prof. Dr. Alexander Güttler und Digital Native Andreas Nehls.

© komm.passion

Trends und Auswirkungen auf die Kommunikation

Eigentlich wissen alle Bescheid. Die Preise werden unter Druck geraten. Fleisch muss teurer werden. Die Menschen wollen sich wieder mehr direkt austauschen. Dem Home-Office gehört die Zukunft. Die Zinsen gehen rauf oder runter. Aus der Krise werden wir viel lernen, vor allem digital. Hinter Corona steht Bill Gates. So oder so ähnlich tönt es allerorten. Hinter jeder Gewissheit erscheinen 100 Ängste und das Ertragen von Unsicherheit ist historisch sicher keine deutsche Tugend. Machen wir eine „Annahme unter Risiko“ und wagen den Blick in die Glaskugel. Einige Trends zeichnen sich ab – mit ihren Auswirkungen auf die Kommunikationslandschaft.

Wir haben mit PAS im Internet verschiedene Trends beobachtet, semantische Netze verfolgt, mit Kollegen diskutiert und zugegeben am Ende subjektiv bewertet.

Beginnen wir ganz groß: Wird uns die Krise zu besseren Menschen machen? Sicher nicht! Verschwörungsprediger wie Attila Hildmann mit einer gehörigen Portion Dumpfkraut im Suppenkessel und die Reinkarnation des deutschen Wutbürgers als Coronaverweigerer zeigen nur eines – der Unvernunft sind wie eh und je keinerlei Grenzen gesetzt.

Clowneske schadet ernsthafter Debatte

Für die eine Hälfte der Deutschen ist dies erschreckend, die andere hat es schon immer schon gewusst: Das Verschwörungsmilieu wird eher von Männern getrieben. Auch scheinen Männer mit Unsicherheit schwieriger leben zu können und suchen nach Erklärungen – egal wie weit hergeholt diese sind.

Ob Showkoch oder abgehalfterter Radiomoderator – es scheint sich ein Zusammenhang abzuzeichnen zwischen persönlichem Geltungsbedürfnis gerade in Coronazeiten und einer starken Hemmungslosigkeit, insbesondere im Internet dies mit abstrusen und dadurch aufmerksamkeitsstarken Thesen zu tun.

Die Mischung ist krude – Esoterik verbindet sich mit linken wie rechten Rändern, Aluhutträgern, in diesen Tagen absurd wirkenden Impfgegnern und echt Besorgten. Eines eint viele: die Hoffnung, die Bewegung für eigene Zwecke missbrauchen zu können.

Es gibt Menschen, die die Welt nicht mehr verstehen (wollen), denen selbst die AfD als Systempartei erscheinen mag. Menschen, die Naturwissenschaft nicht als Teil ihres Denkens betrachten. Für die Esoterik gleichsam Haltung und Lebensform ist. Reicht hier das Potenzial für die nächste Bundestagswahl? Wohl nicht. Zu heterogen sind die Strömungen beispielweise hinter „Widerstand 2020“. Schade, dass die Clowneske auch eine echte Debatte diskreditiert.

Selbstreferenzielles System

Die schlechte Nachricht für professionelle Kommunikation: In der erzwungenen Einsamkeit der Corona-Tage kollabiert der ein oder andere wenig gefestigte Mensch intellektuell und kübelt seine Ängste ungefiltert in die Öffentlichkeit hinaus. Die gute Nachricht: Bislang vernetzen sich tendenziell eher abseitige Filterblasen, ohne wirklich in den deutschen Mainstream einzudringen. Was sich natürlich jederzeit ändern kann – und dank sozialer Netzwerke auch deutlich schneller gehen kann, als uns lieb ist. Die Flut der Meinungen schwemmt in unsere Timelines und macht es schwer möglich, den Grund zu erkennen.  

Das Problem on top: Was in sozialen Medien diskutiert oder gepostet wird, ist nicht selten Gegenstand einer schnell hysterischen „Medienberichterstattung“, die wiederum selbst als kommentiertes Zitat zurück in soziale Medien schwappt – Zirkelschluss in Perfektion.

Die schwierige Einzelfallentscheidung für jeden Kommunikationsstrategen bleibt: Welcher Diskussion muss man sich in Politik wie Unternehmen stellen und welche wertet man dadurch nur unnötig auf – oder wo kann man sogar einen Punkt machen?

Nicht alle in einem Boot

Die grundsätzliche Frage kratzen wir soweit nur. Historisch hat es nach tiefen Einschnitten immer wieder grundlegende Veränderungen auch in der deutschen Gesellschaft gegeben. So erodierte nach dem Zweiten Weltkrieg der Glaube an Hierarchien, Obrigkeiten, Militär und auch Religion.

Erleben wir ebenfalls einen Paradigmenwechsel und wenn ja, welchen?

Nun, zunächst einmal reagieren wir Deutschen mit einem erhöhten Interesse an Yoga und richten uns in Home-Office und Kurzarbeit so weit ein, wie es halt geht. Das spricht noch für eine gewisse Gelassenheit.

Wie wir mit dem Verlust von Sicherheit umgehen, ist noch nicht zu bewerten. Weitere Pandemien sind nicht ausgeschlossen und wir Menschen mussten erleben, wie leicht wir von kleinen Viren zu besiegen sind. Sicherheitsdenken und die Fokussierung auf den eigenen Nahbereich – die Familie, das Land – wird sicher ein Trend. Nicht nur in den USA.

Fun Fact: Schon heute mehren sich die Anzeichen, dass wir Deutschen uns weiter von Amerika ab- und China zuwenden.

„Wir sitzen nicht alle in einem Boot“.

Michael Sandel – Professor Harvard University

So sagt zudem der renommierte Harvard Professor Michael Sandel aktuell in einem Handelsblatt-Interview: Ärmere seien von Corona deutlich stärker betroffen und die Frage nach einer solidarischeren Verteilung von Reichtum werde sich in vielen Ländern stellen.

Wandel voll normal

In der Kommunikation werden Wandel und Krise zum Normalzustand. Das erfordert neue Narrative, die nicht spätere Sicherheit versprechen, sondern mit den Risiken leben helfen. Fliegt der kommunizierte „Purpose“ da als Adler zu weit in die Lüfte, regnet er gerne als Gänseklein auf den Boden der Realität.

Die Globalisierung wird nicht abgeschafft werden, aber der Trend geht klar zu mehr Kontrolle, Sicherheit und Redundanz und damit auch zu kürzeren Lieferketten. Wohlstand wird vernichtet, auch wenn viele das nicht wahrhaben wollen. „Es sieht doch noch alles aus wie vorher …“

Zumindest geschieht dies global. In Sachen Wettbewerb hat dies scheinbar eine gewisse ausgleichende Gerechtigkeit. Schade nur, dass Deutschland als Topexporteur mit leider unzureichend ausgeprägter Digitalmuskulatur hier leicht ins Hinken kommen dürfte (siehe IMD World Digital Competitiveness Ranking 2019 und Cisco Digital Readiness Index 2019).

Handeln statt fordern

Unsere Wohlstandstreiber wie Automobil sind zudem aktuell nicht wegen ihrer Innovationskraft in den Schlagzeilen. Insgesamt dürfte es „ruckelig“ werden. Und zwar längerfristig. Ein schwieriger Schritt für eine Gesellschaft, die ihre Stärken in der Formulierung von Ansprüchen „entlernen“ und gegen Gründermut – nolens volens – eintauschen muss.

Zumindest im Geschäftsleben werden sich Reisen, Messen und auch Veranstaltungen neu begründen müssen. Vieles hat Spaß gemacht und Status gezeigt, ist aber nicht unbedingt nötig in wirtschaftlich engeren Zeiten. Die Alternative müssen nicht langweilige Videokonferenzen sein, gerade Bewegtbild, schlankere Präsentationen, mehr Fokussierung etc. eröffnen hier attraktive Möglichkeiten.

Im Bereich der professionellen Dienstleistungen hat das Home-Office seinen Siegeszug angetreten, der dauerhaft sein dürfte. Vielfältige, hybride Formen kündigen sich an und zeigen vielfältige Chancen für kreative Modelle und neue Kommunikationsformate.

Ein spannender Aspekt für die Beratungsbranche ist die Herausforderung, Home-Office mit neuen, agileren Arbeitsformen zu verbinden. Hier ist die Diskussion erst am Anfang. Wir arbeiten zwar zu Hause, aber häufig noch in den alten, hierarchischen Strukturen, die dabei nur suboptimal funktionieren. Einen sehr variablen Lösungsansatz biete hier das 3A-Modell. Manche Diskussion drückt sich politisch korrekt um das eigentliche Thema herum: die Angst vor dem Kontrollverlust.

Digitale Didaktik

Einen Riesenschub hat die Digitalisierung insgesamt bekommen – bei Kommunen, den Schulen, im Betrieb, in den Medien und last but not least im gesamten Bereich Kommunikation und Marketing.

Da ist noch sehr viel zu lernen, wie Eltern und Kinder gerade beim Thema Homeschooling erleben. An manchen Orten klappt die Umstellung schon sehr gut, in der Breite des kommunalen Schulbetriebes ergeben sich jedoch noch enorme Anforderungen: beispielsweise eine deutliche Anpassung des Lehrstoffes, zeitgemäße Technik und moderne Präsentationsformate. Digitale Didaktik dürfte ein neues Trendthema werden.

Die Welt im Smartphone

Medien sind heute digital. Punkt. Schon heute ist die Gemeinde der anderen Sender um ein Vielfaches größer – von einzelnen Personen bis hin zu systematisch agierenden Entitäten wie Unternehmen oder Organisationen. Natürlich sind auch heute Journalisten als Gatekeeper und Agenda Setter Teil des öffentlichen Dialogs, aber sie müssen sich – nolens volens 2.0 – diese Rolle im Netz teilen.

Gleichzeitig schrumpft unsere mediale Welt, wie wir sie kannten, auf das Format eines Smartphones zusammen, was nicht ohne Folgen auch für die Inhalte bleibt. Und dies alles natürlich in einer Welt, die 24/7/365 überall funktionieren muss. Oder liegt gerade darin der eigentliche Antrieb?

Überfordert uns das? Ganz sicher! Wir lernen gerade erst zu verstehen, dass wir in einem wilden Mahlstrom der Meinungen gelandet sind, die keineswegs auf Fakten seriöser Recherche basieren. Kanzlerin Merkel haben wir beim Thema „Neuland“ zu Unrecht bespöttelt.

Zumindest unsere Kinder könnten bessere Chancen haben. Was in der Diskussion vielfach auftaucht, ist der Ruf nach einem Schulfach „Medienkunde“. Vermutlich eine exzellente Idee schon für die Grundschule und auch darüber hinaus.

Mut zur Zuspitzung

Andererseits doch eigentlich gar nicht so schlimm! Schon Kant forderte, dass wir den Mut haben sollen, uns unseres eigenen Verstandes zu bedienen. Doch wie gehen wir mit der häufig gescholtenen „Verrohung“ im Kommunikationsstil um?

Ersetzen wir mental für einen Moment „Verrohung“ durch „Fokussierung“. Unternehmern, Verbände, Einzelpersonen – Sender jeder Art – müssen lernen, sich noch stärker in ihre Zielgruppen hineinzuversetzen und Informationen nach deren Bedürfnissen zusammenzustellen. Es wird jedoch kein Weg daran vorbeiführen – gerade in kontroversen Diskussionen – die Dinge stärker auf den Punkt zu bringen.

Auch wenn das Humboldtsche Bildungsideal die Älteren von uns zur Differenzierung zwingt, so spricht doch einiges dafür, beispielsweise aufmarschierende Aluhutträger künftig als das zu bezeichnen, was sie sind: arme Verwirrte. Und wir müssen lernen, dies möglichst oft zu wiederholen.

Und wenn wir zu den Verwirrten sprechen, dann in deren Sprache. Sonst kommen wir nicht durch. So ist das Web nun mal. Gleichzeitig gilt es, ernsthafte Gegenargumente aufzunehmen, ohne gleich den Absender zu diffamieren. Mit dieser neuen Dualität gilt es zu leben.

Wenn es uns zudem gelingt, aus nicht direkt lebensnotwendigen Debatten ein wenig die Hektik rauszunehmen, dann wäre dies zudem ein guter Schritt in Richtung mehr Gelassenheit und neues Normal.

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