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Public Affairs in paradoxen Zeiten

Zersplitternde Gegenwart

Paradox, polarisierend und irrsinnig schnell – das ist die Welt in der Zeitenwende. Die gesellschaftliche Debatte hat Mühe, bei all dem nicht den Anschluss zu verlieren. Dabei scheint sie immer paradoxer zu werden, weil Glaubenssätze, die unverrückbar schienen, über Nacht pulverisiert und ins Gegenteil verkehrt werden. Die Polarisierung nimmt zu, weil Verteilungskämpfe, die ans Eingemachte gehen, auf ein eh schon gereiztes Debattenklima treffen, das durch Vielstimmigkeit, Orientierungslosigkeit und Lust an der Eskalation geprägt ist. Und Veränderungen, die sonst Jahre brauchen, scheinen sich momentan über Nacht zu vollziehen. Es scheint, als würde die Gegenwart vor unseren Augen zersplittern und sich neu zusammensetzen. Wie können wir in diesem Umfeld noch gesellschaftliche Diskurse führen? Und was bedeutet das für die Public Affairs?

Die Synchronisation der Ungleichzeitigkeit

Der gesellschaftliche Diskurs wird vor der Herausforderung stehen, Prozesse mit unterschiedlichen Zeithorizonten wieder zu synchronisieren. Vieles, was in den vergangenen Jahren versäumt wurde, muss zügig nachgeholt werden. Zugleich müssen Prioritäten, die sich über Nacht verschoben haben, wieder mühsam eingeordnet und in ein gemeinsames gesellschaftliches Verständnis gebracht werden. Und als wäre das nicht genug, stehen uns existentielle Ziel- und Interessenkonflikte ins Haus, über die wir uns austauschen und irgendwann verständigen müssen. Dieses Irgendwann sollte nicht zu weit in der Zukunft liegen. Die Public Affairs wird Teil dieser Diskurse sein. Welchen Instrumentenkasten brauchen Unternehmen, Verbände, Agenturen, damit sie nachhaltig Gehör finden?

Klarheit in Sprache und Haltung

Diskurse handeln immer auch von Interessenskonflikten und Verteilungskämpfen. Politische Kommunikation braucht Klarheit. Klarheit (und damit Ehrlichkeit) in den Fakten. Klarheit (und damit Unterscheidbarkeit) in der Formulierung von Positionen. Klarheit (und damit Transparenz) in der Benennung von Quellen und Zusammenhängen. Klarheit (und damit Orientierung) im Aufzeigen von Konsequenzen. Das alles hat viel mit dem Respekt zu tun, Dialogpartner:innen wie Erwachsene zu behandeln und die viel bemühte Augenhöhe auch tatsächlich herzustellen. Klarheit weist nicht immer den einfachen Weg, wer klar ist, bekommt nicht nur Beifall. Aber viele der Versäumnisse, die uns gegenwärtig beschäftigen, rühren genau daher, dass Konsequenzen nicht deutlich benannt und Positionen bis zur Unkenntlichkeit hinter Geschwurbel verloren gingen. Die Merkel-Ära war ja nicht frei von Krisen. Doch das vermittelte Grundgefühl war immer ein „Das-wird-schon-wieder“, nichts schien wirklich Folgen für unser Leben zu haben. Die Illusion auf Rückkehr zu „alten Realitäten“ hat das Austragen und das klare Benennen von Interessenkonflikten scheinbar verzichtbar gemacht. Diese Illusion ist endgültig geplatzt. Politische Kommunikation braucht jetzt von demokratischer und respektvoller Haltung getragene Klarheit.

Nachhaltiger Umgang mit dem Ökosystem „Diskurs“

Haltung ist das Stichwort für das nächste Instrument: Politische Kommunikation muss Verantwortung für das Ökosystem Diskurs übernehmen, damit gesellschaftliche Diskurse auch künftig funktionieren können. Dazu gehört das Streben nach „Wahrhaftigkeit“. Wir alle haben in unseren PR-Ausbildungen die diversen Ethikkodizes für Kommunikationstreibende gelernt – vom Athener Kodex von 1965 bis zum DRPR-Kodex von 2012. Diese „Regelwerke“ sind aktueller denn je. Gerade im Netz mischen sich immer mehr Meinungen mit Fakten mit echten Lügen. Populistische Bewegungen und totalitäre Staaten setzen sogar ganz bewusst auf Falschmeldungen und Lügen, um öffentliche Meinung zu verunsichern. Leider nicht selten auch erfolgreich.

Gleiches gilt für die viel beschworenen Narrative – formerly known as „Story“. Eine Story ist dann gut, wenn sie nachhaltig ist, den Faktencheck besteht und wirkmächtig ist, ohne dabei auf Lug und Trug zu setzen. Umso mehr müssen Kommunikator:innen der großen Versuchung widerstehen, sich am Werkzeugkasten der Schwurbler und Verdreher zu bedienen. Die Publizistin Marina Weißband hat deren Absichten in der FAZ (27.4.22) auf den Punkt gebracht: „Es geht nicht darum, eine Wahrheit durchzusetzen. Es geht darum, die Wahrheit zu vernichten. Eine Gesellschaft, die sich nicht mehr auf Fakten einigen kann, wird auch nicht mehr demokratisch agieren. Dann braucht es eine Autorität, die festlegt, was Wahrheit ist.“ Die Zukunft des demokratischen Diskurses wird im Diskurs entschieden. Wer politische Interessenvertretung betreibt, muss dies nachhaltig tun, sodass das Ökosystem, das der demokratische Diskurs zum Überleben braucht, erhalten bleibt.

Emanzipation

Die Analyse der politischen Arena erfordert einen Omnichannel-Ansatz. Digitale und analoge Kanäle müssen in der Gesamtanalyse betrachtet werden. Aber Organisationen müssen nicht „alle“ Kanäle bedienen. Zur strategischen Planung gehört auch die Emanzipation von dem, was angeblich alle machen, die bewusste Entscheidung für Umfelder, die den relevanten Themen und dem Absender gerecht werden. Das meint Zielgruppen ebenso wie Formate, Tonalitäten und Diskursklima. Einen Kanal, der von Häme und Fake News dominiert wird oder nach Regeln funktioniert, die dem eigenen Anliegen nicht gerecht werden, sollte man auch nicht nutzen. Doch Vorsicht, das darf nicht zum Killerargument gegen Veränderungen und zur pauschalen Abwehr neuer Kommunikationskanäle führen. Aber am Anfang sollten die Fragen stehen: Wo kann ich nach den Regeln kommunizieren, die meinen Inhalten und meiner Haltung gerecht werden? Welche Kanäle kann ich nachhaltig bedienen? Und nicht zuletzt: Wo erreiche ich die Zielgruppe, die für meine Themen relevant ist? Es lohnt, sich bewusst für oder gegen Kanäle zu entscheiden.

Als sich Robert Habeck im Januar 2019 aus Twitter und Facebook zurückzog, löste das eine Debatte darüber aus, ob Spitzenpolitiker:innen auch „ohne“ wirkungsvoll kommunizieren können. Heute, im Frühjahr 2022, ist Habeck der vielleicht vermittlungsstärkste Spitzenpolitiker.

Gleiches gilt fürs Tempo. Organisationen müssen im Diskurs die Fähigkeit haben, schnell zu agieren, schnell zu reagieren. Aber das müssen sie gezielt tun, wenn es ihnen dient. Sie dürfen sich nicht treiben lassen, nur weil im Dorf gerad eine Sau unterwegs ist. Emanzipation meint die hier Bereitschaft, nicht jeder Sau hinterherzurennen und dem Diktat des Tempos zu widerstehen. Auch Langsamkeit will gekonnt sein, im Diskurs mal warten können, andere vorlassen und dann clever einsteigen. Das erfordert ein Verständnis der Kanalmechanismen – der analogen wie der digitalen – und das Selbstbewusstsein, auch mal kommunikativ gegen den Strich zu handeln.

Agile Organisationen tun sich erfahrungsgemäß leichter mit Eigenständigkeit in der Diskussion. Sie lösen kommunikative Aufgaben da, wo sie anfallen, delegieren Verantwortung und verkürzen langwierige Abstimmungsprozesse. Außerdem sind sie in der Lage, vorhandene Ressourcen besser zu nutzen. Agil heißt jedoch auch immer koordiniert, damit Diskurse auch wirkungsvoll begleitet und der jeweiligen Situation angepasst werden können.

Klarheit, Nachhaltigkeit, Emanzipation – drei Ansätze, die helfen, in Zeiten großer Orientierungslosigkeit wirkungsvoll Public Affairs zu machen.  

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