• Dossier

Teil 1: Vier Jahre laterales Management bei komm.passion – ein kritischer Bericht

Lateral lebt

„Also im Grunde genommen spielt ihr jeden Montag Völkerball – das finde ich voll krass“. Als unser Kollege Michael Peters seiner MBA-Klasse in Österreich die Arbeitsweise von komm.passion vorstellte, waren das die Worte, mit denen eine Mitstudentin jenes Führungs- und Organisationsmodell kommentierte, das wir im Januar 2014 eingeführt haben.

Und zugegeben: Wer sich Montag früh in die standortübergreifende Videokonferenz bei komm.passion einklinkt, kann sich durchaus an die aus dem Schulsport bekannten Auswahlmechanismen erinnert fühlen: Schließlich ist bei uns mit der Montagsrunde auch der wöchentliche Arbeitszeitbasar eröffnet, auf dem die „Project Owner“ (PO) von komm.passion um die Einsatzzeit ihrer Kollegen feilschen. Das Prinzip: Jeden Freitag schicken die Projektleiter der Kundenetats, die erwähnten PO, ihre Planungen und Wünsche, welche Kollegen sie in der kommenden Woche mit wie vielen Stunden einsetzen möchten, an eine zentrale Stelle. All diese „Buchungen“ laufen Montag früh auf einer Tafel zusammen. Diese zeigt, wer wie lange auf welchem Kunden und welchem Projekt arbeiten kann, soll oder muss. Arbeit verteilt sich höchst effizient, quasi eine sich selbst organisierende Cloud mit einem GF im Wechsel als Moderator bei Problemfällen.

Project Owner kann jeder sein. Vom Volontär bis zum Agenturchef, abhängig von der Komplexität der Aufgabe. Was dann zu Konstellationen führt, in denen eine zackige 22-jährige Juniorberaterin den CEO der Agentur als Mitarbeiter auf ihrem Projekt bucht, auf seine Aufgabe einbrieft und ihm Timings vorschreibt. Was auch meistens so funktioniert. Und genau an dieser Stelle bricht komm.passion seit 2014 mit der arrivierten Logik der meisten Agenturen und Kommunikationsabteilungen.

Aufgabenverteilung, Koordination und Entscheidungsmacht, und damit Führung, erfolgen nicht zwanghaft von oben nach unten, sondern funktional und situativ quer durch alle Ebenen der Qualifikations- und Erfahrungshierarchie. Lateral halt. Es sind diese Momente, in denen Projektteams frei zusammengestellt werden können und in denen der Junior-Berater als PO auf seinem Projekt das letzte Wort hat, in denen laterale Organisationsformen anfangen zu leben.

Was kann man daran übel finden? Ganz einfach: Da ist zunächst einmal der Machtverlust, den Menschen mit großen Titeln und noch größeren Egos durch das Prinzip Lateral erleiden. Zumindest gefühlt. Etwas anderes ist aber viel wesentlicher – Stichwort Völkerball. Die totale Transparenz der Arbeitsorganisation zeigt ja nicht nur an, welche üblichen Verdächtigen in dieser Woche aus- oder überbucht sind. Das System ist auch denen gegenüber gnadenlos, die in der anstehenden Woche noch nicht ganz ausgelastet ist. Vor allem in der Anfangszeit nach der Umstellung auf das Project-Owner-System wurde Nichtauslastung bei uns sehr häufig als Zurückweisung empfunden. Als subtile Botschaft des „Nicht-gebraucht-werdens.“ Völkerball halt. Wir brauchten etwas Zeit, um noch freie Ressourcen als Segen und Überstundenkiller zu positionieren. Und um Überbuchung nicht als Statusmerkmal zu sehen. Interessanter Effekt: Heute ist die Hilfsbereitschaft extrem hoch und zentraler Teil unserer Kultur.

Dass mehr Freiheit und weniger Zwang bei der Beantwortung der zentralen Agenturfrage „Wer macht was bis wann?“ dazu führt, dass man ruhigere und introvertierte Charaktere fördern und ermutigen, während man aufbrausende extrovertierte Menschen eher vor sich selbst schützen muss, ist eine von vielen Lektionen, die wir in den vergangenen Jahren gelernt haben. Manchmal auf die harte Tour – und manchmal sichtbar in vielen kleinen Geschichten, die wir während unserer Veränderung von einer klassischen PR- und Strategieagentur zur, mit Verlaub, ersten komplett lateral organisierten Kommunikationsberatung in Deutschland erleben durften.

In diesem mehrteiligen Dossier wollen wir über vier Jahre Selbstversuch laterales Management kritisch berichten. Und jede Agentur, Konzern-Kommunikationsabteilung und Beratungsfirma zum Diskurs dazu aufrufen. Wir haben zumindest festgestellt, dass nicht nur in der Völkerball-Analogie Wahrheiten und Realitäten stecken, die wir aus keinem Lehrbuch, keiner Dissertation und keinem Ted-Talk dieser Welt hätten ziehen können.

Die Ursprünge: Reiner Selbstzweck

Als wir mit dem Jahresauftakt 2014 anfingen, komm.passion radikal umzubauen, waren die Beweggründe wenig romantisch. Wir hatten weder die Absicht ein Vorreiter für partizipative Organisationsformen zu sein, noch sind wir ins Silicon Valley gereist, um vollbärtige Arbeitsweisen aus der IT wie Scrum oder Kanban abzukupfern. Nicht mal die Worte „lateral“ oder „agil“ sind bei unseren initialen Überlegungen gefallen. Alles, was wir zunächst wollten, war effizienter zu werden und Silos aufzubrechen. Reiner Selbstzweck, um letztendlich den Wettbewerb besser schlagen zu können.

Als wir uns Ende 2013 angesehen haben, was wir wirklich brauchen, landeten wir nicht bei Digitalisierung, Scrum, Designthinking, Vision Sprints oder anderem Unsinn. Wir landeten bei einem einzigen Wort: Mehr Kooperation – über Teams und Standorte hinweg. Und mehr Entfaltungsmöglichkeiten für den Einzelnen. Das hatten wir auch nötig, da wir bis dahin in voneinander mitunter recht isolierten Units und Standorten eher klassisch neben- als miteinander gearbeitet haben. Die ultimativen Ressourcen einer Agentur, Wissen und Erfahrung, wurden nicht geteilt, sondern eher gehortet. Da helfen auch keine Datenbanken oder IT-Tools. Es ging um grundsätzlichere Fragen.

In Zeiten zunehmender Komplexität disziplinübergreifender Aufgabenstellungen ist es unserer Meinung nach vor allem die Fähigkeit zur Kooperation und Innovation, die zum wesentlichen Merkmal der Leistungsfähigkeit einer Agentur geworden ist. Und wer diese Faktoren fördern will, der muss in Prozesse, Organisation und Kultur investieren.

Das war letztlich der gedankliche Rahmen und entscheidende Ansatzpunkt, der uns dazu veranlasst hat, in einem radikalen Schnitt alle Units und ihre eigenen Kostenstellen abzureißen, das laterale PO-System einzuführen und Kooperation nicht nur zu fördern, sondern auch knallhart monetär zu incentivieren.

Ein Getriebe – drei Komponenten

Als wir bei komm.passion von der sich selbst organisierenden Agentur träumten, die sich wie eine Cloud nur durch Schwarmintelligenz um komplexe Probleme des Kunden legt, stand uns eine riesige Bandbreite an Optionen zur Auswahl – von neuen, schickeren Whiteboards bis zur kompletten Abschaffung jeder Form der Hierarchie und der Schaffung eines Agentur-Kollektivs, in dem jeder das gleiche verdient, das gleiche denkt und es nur Gleiche unter Gleichen gibt. Die letztliche Orientierung bei der Ausarbeitung unseres Veränderungskonzeptes „re:start“ erfolgte dann aber nicht an ideologischen Maximallösungen, sondern an konkreten Dingen, die wir ändern und verbessern wollten. Letztlich entstand ein Planetengetriebe mit drei Komponenten, von denen alles andere ausgehen sollte.

 

1. Arbeitsabläufe

Das PO-System: Mit dem Jahresauftakt 2014 haben wir alle bisherigen starren Teamaufstellungen durch flexible, disziplin- und standortübergreifende Arbeitsgemeinschaften ersetzt. Die zentrale Achse stellt dabei das bereits in Aktion geschilderte PO-System dar, das auf lateraler Organisation und situativer Führung basiert. In diesem System betreut der PO die Kunden- und Neugeschäftsprojekte und hat die kaufmännische Verantwortung für die jeweilige Etatführung und die Ressourcenplanung. PO kann jeder in der Agentur sein, vom Geschäftsführer bis sogar zum Trainee – abhängig von Komplexität und Schwierigkeitsgrad. Eigene Teamleiter existieren daher nicht mehr; die Zwischenebene wurde komplett abgeschafft. Dem PO zur Seite steht ein Supervisor als Sparringspartner, in der Regel ein erfahrener Senior Berater. Bei ausgewählten Projekten kommt zusätzlich ein Kreativdirektor dazu. Im Duo oder Trio wird dann das Projekt getrieben, gemeinsam mit zum Thema und den Aufgaben passenden Mitarbeitern.

 

2. Personalentwicklung

Mentor-Mentee-Systematik: Es wäre inkonsequent gewesen, die Mechanismen der Arbeitsorganisation zu verändern, ohne die Art und Weise zu verändern, wie wir Personal entwickeln und führen. Schließlich ist mit der formellen Auflösung der Teamstrukturen auch der Berichts- und Feedbackweg Teamleiter-Mitarbeiter abgeschafft worden. Die Idee hier: Eine Mentor-Mentee-Systematik ersetzt die Teamleiter-Untergebene-Kaskade. Es sollten in Sachen Personalentwicklung und Talentmanagement vielmehr starke Zweierbeziehungen sein, in denen „re:start“ leben sollte. Jeder Mitarbeiter hat in diesem neuen Personalsystem einen Mentor, einen erfahrenen Kollegen mit eigens konzipierter Führungsausbildung. Der Mentor führt mit seinem Mentee mindestens zwei Gespräche pro Jahr. Thema dieser Gespräche: 360°-Feedback von Kollegen, Kunden und Geschäftspartnern, Entwicklungspotenziale und das obligatorische Verhandeln von Bezahlung. Daneben ist der Mentor ständiger Coach, etwa in Fragen der Karriereplanung oder Weiterbildungsseminaren.

3. Kompetenztreiber teilen Wissen, Querschnittsfunktionen erleichtern den Alltag

In Konzepten situativer Führung wird den dezentral organisierten Führungskräften, in unserem Fall den PO, viel abverlangt. Sie müssen Entscheidungen treffen, Prozesse organisieren, inhaltlich am Ball bleiben, Team und Kunde bei Laune halten und dafür sorgen, dass der Einsatz an Ressourcen dem entspricht, was auch abgerechnet wird. Deshalb stehen ihnen mit den Kompetenztreibern standortübergreifende Gruppen ohne kaufmännische Verantwortung zur Verfügung. Diese sorgen einerseits dafür, dass wir als Agentur unsere Kompetenzen dynamisch weiterentwickeln und bisher erlangtes Wissen miteinander teilen. Die Kompetenzgruppen sind gegenüber den PO, die de-facto Kleinunternehmer unter dem Dach von komm.passion. Sie sind eine immens wichtige Hilfefunktion bei der Entwicklung und Umsetzung von Ideen. Genauso wie Werbeagenturen, die Beratung von Kreation oder wie Unternehmensberatungen, die Analyse von Strategieentwicklung trennen, haben wir begonnen, Führung von Fachlichem zu trennen. Soll heißen: Spezialisten wie in Analyse, Strategie, Kreation, Healthcare, Digitales, Design oder Employer Branding tun alles, um den PO – und damit am Ende den Kunden – die besten Konzepte und Ideen anzubieten, die wirklich state of the art darstellen.

Hinzu kommen klassische Querschnittsfunktionen wie Personal, Controlling, IT, Eigenmarketing etc., die sich immer mehr als Services der operativen Einheiten generieren und den PO beispielsweise jederzeit alle kaufmännischen Daten liefern, um den Kundenetat auch betriebswirtschaftlich transparent führen zu können. Man kann das fast mit einem Systemkopf in einem Franchise-System vergleichen.

Trennung von Fach- und Führungskarrieren

Wir haben im Laufe der Systemveränderung noch etwas sehr wichtiges gelernt: die Trennung von Fach- und Führungskarrieren und deren völlige Gleichwertigkeit.

Wir kennen das alle aus Unternehmen oder Agenturen: Karriere macht der, der die besten Konzepte schreibt, sich die tollsten Ideen ausdenkt und die brillantesten Analysen liefert. Wer fachlich stark ist, bekommt früher oder später die Führungsverantwortung. Und das führt dann oft ins Unglück. „Der ist ein brillanter Denker, aber Teams organisieren ist nicht so seine Stärke.“, dürfte so oder so ähnlich eine häufige Bemerkung in Kaffeeküchen sein. Nicht nur in Agenturen.

Diesem Prinzip wollten wir bei komm.passion vorbeugen und haben begonnen, Querschnitts- und Führungsaufgaben gleichrangig aufzustellen. Sowohl in Sachen Wertschätzung, als auch in Sachen Vergütung. Bei uns verdient der geniale Solitär genauso viel (oder sogar mehr) Geld wie der PO von ganz großen Etats. Der Spezialist im Kämmerlein hat genauso gute Aufstiegs- und Karrieremöglichkeiten wie die Rampensau auf der Bühne beim Kunden.

Zugegeben: Das hat einige Zeit gedauert und der Prozess ist sicher noch nicht abgeschlossen, aber die Mitarbeiterrolle hat in den Projekten einen ganz anderen Stellenwert bekommen. Und es sind oft die Fachleute, die überbucht sind. Die Arbeitsteilung nach Können und Neigungen nimmt einfach zu.

Lateral lebt – auch in Ergebnissen

Der Erfolg unserer partizipativ-lateralen Arbeitsweise lässt sich auch an einer kontinuierlichen Ergebnisverbesserung Jahr für Jahr ablesen. Gleichzeitig haben wir beispielsweise im Kreativ-Ranking einen Riesenschritt nach vorne gemacht und unseren Wirkungsgrad für unsere Kunden deutlich verbessern können. Der Anteil der komplexen wie integrierten Projekte und Kampagnen nimmt stetig zu.

Die im Zuge unserer Neuaufstellung erneuerte Vergütungsstruktur dürfte bei der Gesamtentwicklung zumindest nicht abträglich gewesen sein. komm.passion schüttet einen nicht unwesentlichen Teil des erwirtschafteten Betriebsergebnisses an die Mitarbeiter aus. Vom Junior bis zum CEO ist der Bonus der Mitarbeiter voll und ungedeckelt vom erreichten Jahresergebnis abhängig. Die 100-Prozent-Marke ist zuletzt viermal in Folge geknackt worden. Eigenverantwortung wird nicht nur gefördert und gefordert, sondern lohnt sich auch auf dem Konto. Wir merken diesen Zusammenhang vor allem in Form von Initiativbewerbungen: Als Arbeitgeber sind wir attraktiv, was nicht unwichtig ist in einem enger werdenden Personalmarkt.

Zeit zum Ausruhen? Mitnichten! Ein Nebeneffekt ist, dass bei uns eine eigene Organisationsberatung entstanden ist, mit der wir unsere Erfahrungen gerne mit Unternehmen und auch Agenturen teilen wollen. Wir denken, dass Schluss sein muss mit dem Wortgeklingel und stattdessen pragmatisch und lateral extrem gut zusammen passen.

 

Lesen Sie im nächsten Teil:

Lektionen, Lateralschäden und jede Menge Wortgeklingel – Was wir in vier Jahren ohne Hierarchien gelernt haben. Und warum ein Auslagern von Fortschritt in Joint Ventures ein Irrweg ist.

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