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Public Affairs in paradoxen Zeiten

Hat das Geschäftsmodell „Verband“ Zukunft?

Politische Diskurse verändern sich gerade mit enormer Wucht und hohem Tempo. Passt der klassische Interessenverband noch in diese Welt? Aber der Reihe nach… 

Klimakrise und Corona haben Deutschland und seine Debatten verändert. Dazu das Ende der Ära Merkel, eine neue Regierung, neue und häufig junge Köpfe im Parlament... Veränderung lag in der Luft.

Jetzt der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine. Die Menschen sind betroffen vom Geschehen. Gleichzeitig muss sich das Land „ehrlich“ machen und in kürzester Zeit Versäumnisse der Vergangenheit korrigieren. Praktisch über Nacht werden Güter und Leistungen zur knappen Kostbarkeit, deren unbegrenzte Verfügbarkeit immer selbstverständlich war. Das führt zu Zielkonflikten und Abwägungen, die paradox erscheinen. Grüne wollen längere Laufzeiten für Braunkohlekraftwerke, während die CDU-Fraktion für den raschen Ausbau der Windenergie wirbt.

In irrsinniger Geschwindigkeit werden Entscheidungen mit langfristigen Auswirkungen getroffen. Und das unter enormem Druck und in einem Diskursklima, das der Kommunikationswissenschaftler Bernhard Pörksen zurecht die „große Gereiztheit“ genannt hat. Wohlfühlzonen gibt es nicht mehr, es geht ums Eingemachte. Nicht wenige Unternehmer:innen stehen vor der ganz konkreten Frage: „Werden wir morgen noch bezahlbare Energie haben und weiter produzieren können?“

Wie reagiert man als Verband, wenn neue Realitäten politische Glaubenssätze in Serie und mit großer Wucht einfach vom Tisch fegen? Wenn Verteilungskämpfe plötzlich an die Substanz gehen? Wenn über Nacht Milliarden Euro einfach so und ohne die gelernten Beteiligungsprozesse neu verteilt werden?

Gleichzeitig muss sich das Land „ehrlich“ machen und in kürzester Zeit Versäumnisse der Vergangenheit korrigieren. Praktisch über Nacht werden Güter und Leistungen zur knappen Kostbarkeit, deren unbegrenzte Verfügbarkeit immer selbstverständlich war.

Für Verbände ist das eine besondere Herausforderung. Ihr Geschäftsmodell basiert ganz zentral auf der abgewogenen Verdichtung von Interessen und Positionen. Ein Verband muss eben die Interessen aller Mitglieder im Blick haben, und die sind häufig heterogen. Das macht die Verständigung auf gemeinsame Positionen zeitaufwändig. Hinzu kommt, dass die einmal publizierten Positionen belastbar sein müssen. Sie definieren die „Verhandlungsmasse“, die eine Branche oder ein Branchencluster in die politische Debatte einbringt. In dieser Situation muss jedes Wort sitzen.

Mit Blick auf diese Anforderungen haben sich Organisationsstrukturen entwickelt, die stark hierarchisch geprägt waren und mehrfache Absicherung vor Geschwindigkeit gesetzt haben. Dieses Modell kommt jetzt an seine Grenzen. Verstärkt durch Bubbles, Tempo und Diskursklima stellen die neuen Realitäten auch ganz neue Herausforderungen an einen Verband. Hinzu kommen die Mitglieder als Kunden, die zum Teil selbst weitreichende Transformationen hinter sich haben und jetzt auch von ihren Verbänden als Dienstleister agileres Handeln erwarten.

Wenn sie das hinbekommen, werden Verbände wichtiger denn je. Denn wenn die Kakofonie der Stimmen immer größer und die Erregungskurve immer hitziger wird, brauchen Politik, Medien und Gesellschaft Institutionen, die verlässlich Interessen bündeln und im Diskurs kanalisieren.

Die Lösung wird nicht in der Revolution liegen. Der Königsweg wird vielmehr die Evolution und Transformation von Verbänden sein, die agile Elemente und „klassische“ Verbandsorganisation wirkungsvoll zusammenführen.

Expertise statt Organigramm, Verantwortung statt Zuständigkeit

Ein fertiges Patentrezept kann auch komm.passion nicht anbieten. Die Realität ist in vielen Bereichen ein „moving target“. Ein genaues Zielbild ist nicht auszumachen, zu volatil und komplex sind die vor uns liegenden Veränderungen. Der Politikwissenschaftler Karl-Rudolf Korte hat mit Blick auf Regierungshandeln vom „Modus tastenden Lernens“ gesprochen – ein Begriff, der auch zur Verbandsarbeit gut passt.

Agile Organisationen bringen für diesen Lernprozess gute Voraussetzungen mit. Sie sind in der Lage, sich flexibel auf unvorhergesehene Ereignisse, neue Anforderungen und auch auf neue Gemengelagen einzustellen. Die folgenden Zutaten haben sich in der Praxis als wesentlich herausgestellt, um agile Verbandsarbeit – das „Lernende Tasten“ – zu unterstützen:

 

Organigramme auflösen

Am Anfang steht das Überführen von Organigrammen und Silos in „amorphe“ Experten:innen-Pools. Das fördert ganz automatisch bereichsübergreifende Projektteams und ermöglicht eine Organisationskultur, die auf Vertrauen, Verantwortung und Lernbereitschaft setzt. Viele der gesellschaftlich diskutierten Themen lassen sich nicht mehr voneinander abgegrenzt in eigenen Silos lösen. Sie stehen in Wechselwirkung zueinander und müssen daher übergreifend betrachtet werden. Der Expert:innen-Pool schafft die organisatorische Voraussetzung, Projektteams bereichsübergreifend, passend zu den Anforderungen und ohne Rücksicht auf „Höfe“ zusammenzusetzen.  

 

Verantwortung statt „Zuständigkeit“

Zuständige Mitarbeiter:innen, die Aufgaben „von oben“ angetragen bekommen, passen nicht mehr in die Zeit. Verbände brauchen Kolleg:innen, die ihre Themen initiativ vorantreiben, entscheiden und am Ende auch verantworten. Das setzt Mut bei den Top-Führungskräften voraus, weil sie Kontrolle abgeben – dafür aber Expertise und Flexibilitäten bekommen. Am Ende gehört zur Verantwortung eben auch, Expert:innen so einzubinden, so dass jede:r an Bord gewinnbringende Expertise beisteuert und alle gemeinsam das passendste Team für das jeweilige Thema bilden. Verbänden gibt das die Chance, schneller, flexibler und auch kompetenter auf neue Gemengelagen reagieren zu können. 

 

Kanäle hinterfragen

Jede Generation hat ihren Kanal – und jede Generation wird älter und spricht irgendwann mit, wenn es darum geht, Interessen zu verhandeln. Deutlich wird das am Deutschen Bundestag. Das Parlament ist jünger geworden, und die neuen MdBs bringen neue Informations- und Kommunikationsstile mit. Darauf müssen Kommunikator:innen reagieren. Bewegungen wie Fridays for Future haben massiv an Präsenz und vor allem an Gewicht im öffentlichen Dialog gewonnen. Der Dialog mit ihnen muss auf den adäquaten Kanälen gestaltet werden. Verbände dürfen dabei auch mal überraschen, kreative Angebote machen, die man von ihnen nicht erwartet hätte. Digital und analog - politische Kommunikation muss omnichannel geplant werden. Aber Vorsicht, nicht blind jeder Sau hinterherrennen, die gerade durchs Dorf gejagt wird. Planung darf auch dazu führen, die Kanäle auszusortieren, die in Zielgruppe, Tonalität und Klima nicht das Umfeld bieten, die das jeweilige Thema braucht. Das ist eben der Spagat: Neues wagen ohne sich selbst zu verlieren. Wenn es einfach wäre, wär’s kein Beruf.

Agile Organisationen bringen für diesen Lernprozess gute Voraussetzungen mit. Sie sind in der Lage, sich flexibel auf unvorhergesehene Ereignisse, neue Anforderungen und auch auf neue Gemengelagen einzustellen.

Und spätestens hier beißt sich die Katze in den Schwanz: Die Diversifikation der Kanäle braucht nämlich auch die Diversifikation von Verantwortung. Kommunikation muss in Tonalität und Inhalt auf die jeweiligen Zielgruppen und die Kanal-Erfordernisse angepasst werden. Das gelingt nur, wenn die jeweiligen Kanalmanager Entscheidungen treffen können, wie Kommunikation gestaltet wird.

Für Verbände bedeutet das alles einen Kulturwandel. Politik galt noch bis in die jüngste Vergangenheit als die Sphäre der sorgfältigen Planung und der sortierten Prozesse. Aber das Mantra vom „Das-wird-schon-wieder“ der krisengeplagten Merkel-Ära hat sich als Illusion herausgestellt. Auf die Rückkehr zu einer Politik, die sich entlang vorhersehbarer Linien, Prozesse und Timelines vollzieht, sollte sich niemand verlassen.

Der Verband als Agentur

In Unternehmen setzt sich der agile Ansatz mehr und mehr durch.  Er wird auch für Verbände das Mittel der Wahl sein. Denn agile Verbände – so die These – bringen für die jetzt entstehende Welt bessere Voraussetzungen mit. Das alles muss in einem Tempo geschehen, das zum jeweiligen Verband passt, aber zugleich die Entschlossenheit vermittelt, dass die Veränderungen alternativlos sind. Konsequent weitergedacht können sich Verbände so zu agilen Dienstleistern – ja zu Branchen-Agenturen entwickeln, die die Interessen ihrer Klientel wirkungsvoll vertreten.

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