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Alexander Güttler über Agilität, KI und Exzellenz

Gut gegen den Wolf im Bauch

Früher war mehr Party – aber zurück in die 80er will er deshalb nicht. Alexander Güttler hat 45 Jahre die Kommunikationsbranche in Deutschland mitgeprägt. Vor 25 Jahren gründete er komm.passion, vor mehr als 10 Jahren agilisierte er die Agentur und machte sie so zur passendsten Agentur Deutschlands. Mit Blick auf KI ist Güttler optimistisch: „Wer echte Ahnung hat, überlebt – und nutzt KI, um noch besser, schlanker und schneller zu werden.“ Und echte Ahnung ist das, worauf komm.passion und Team Farner setzt.

komm.passion: Alexander Güttler, nach 45 Jahre Kommunikationsbranche soll jetzt also Schluss sein – geht das überhaupt, einfach so aufzuhören?

Alex Güttler: Sagen wir es so, ich bin jetzt „Halbprivatier“. Ein bisschen was mache ich schon noch, was soll ich sagen, es macht mir halt Spaß. Aber ich kann mir erlauben, sehr gut auszuwählen.

Und Stand heute stimmen die 45 Jahre tatsächlich ziemlich genau.1980 startete ich als Journalist, erst klassisch Print und dann Funk und Fernsehen beim WDR. Doch bald kamen die ersten PR- und Werbeprojekte dazu – das hat man damals nicht groß unterschieden.  

komm.passion: Zur Einordnung: 1980 war das Faxgerät State of the Art, das Kettenrauchen im Büro normal und der Letraset-Bogen ein ganz normales Grafik-Tool …

Alex Güttler: Ja, es war eine völlig andere Welt. Den PR-Berater als Beruf, den gab es damals kaum. In Unternehmen saßen oft ehemalige Lokaljournalisten, die keine Lust mehr auf Story-Jagd hatten. Sie lebten von Kontakten, schrieben Mitarbeitermagazine – alles sehr altväterlich. Doch dann merkten ein paar schlaue Köpfe: Hier lässt sich Geld verdienen. Und die Branche begann zu boomen. Seitdem hat sich die Branche natürlich enorm verändert – unser Alltag ja auch. Wenn ich das über den gesamten Zeitraum einordnen soll, sehe ich vor allem drei Phasen, ich nenne sie scherzhaft: Die Party, das Aufräumen und die Effizienz.

Party – Goldrauschsstimmung und Machismo  

komm.passion: Party klingt gut, lass uns damit beginnen – das gesellschaftliche Ansehen der Branche war vorsichtig formuliert ambivalent. 

Alex Güttler: Das Ansehen war eher niedrig. Aber die Bezahlung war nicht schlecht - und das hielt die Leute bei der Stange. Mit Party meine ich die Phase des Experimentierens. Die Kommunikationsbranche war in Goldrausch-Stimmung, erfand schillernde Begriffe, große Konzepte und komplexe Stakeholder-Modelle. Etat-Gewinne wurden mit Champagner gefeiert, Maßnahmen wurden teuer produziert. Ein Dreh in Kuala Lumpur? Warum nicht! Hauptsache, es glänzt. Agenturchefs und Kreativdirektoren inszenierten sich als schillernde Persönlichkeiten, die mit großem Glockenspiel und viel Charme ihre genialen Einfälle präsentierten. Der Aufwand stand oft in keinem Verhältnis zum Nutzen. Was wirklich funktionierte und was nicht, das wusste damals niemand so richtig. Aber der Branche ist es gelungen, zu unterhalten. Und den Unternehmen einzureden, dass sie immer mehr kommunizieren müssen.

komm.passion: Aber es waren auch die Jahre, die das Bild einer Branche prägten, in der Nachtschichten zum Alltag gehörten und er Umgangston schon mal rauer sein kann. 

Alex Güttler: Keine Frage, die Kultur war macho, egozentrisch. Da haben ganze Kreativteams nächtelang irgendwelchen Mist korrigieren müssen, weil jemand meinte, dass der Hauch einer Strichstärke das allerletzte Überzeugungstüpfelchen für die Kampagne sei. Familien? Fehlanzeige. Work-Life-Balance? Ein Fremdwort. Heute wissen wir: Die letzten Details merkt keine Sau. Kein Kunde, kein Konsument, nicht mal „unterschwellig“. Das war einfach nur Ego und Macht.

Für viele war die Agentur dennoch eine Art Familienersatz, wo sie ihren Partner und oft auch den Partner danach gefunden haben. Aber im Ernst – wer will das wirklich zurück? Es war ein System, in dem die Lautesten und Rücksichtslosesten gewonnen haben.

Das hat sich bis heute Gott sei Dank komplett verändert. Wir denken viel darüber nach, wie wir miteinander umgehen, wie wir Erfolg definieren und wie ganz viele ganz unterschiedliche Menschen bei uns glücklich werden können. Das ist doch einfach besser. Ich will die Zeit nicht zurück.

Aufräumen – vom Dotcom-Crash zum KPI

komm.passion: Jede Party endet irgendwann. Und diese endete mit einem riesigen Knall. Im März 2000 platzte die Dotcom Blase. Was änderte sich damals?

Alex Güttler: Mit der Internet-Blase platzten auch viele Illusionen.  Zum Beispiel die vom „freien Netz“, vom unbegrenzten Wachstums für alle. Plötzlich war klar: Das Internet ist ein Markt, der nach wirtschaftlichen Prinzipien funktioniert. Und zwar knallhart. Es war auch ein Warnsignal an die Wirtschaft: Glaubt nicht alles, was man Euch erzählt. Hinterfragt mehr: Was funktioniert? Was nicht? Und lasst weg, was nichts bringt. Genau das passierte jetzt auch in der Kommunikation.

Gleichzeitig veränderten sich die Machtverhältnisse. Früher wussten wir Agenturen mehr als die Kunden. Doch langsam lernten die Unternehmen dazu. Sie heuerten unsere Leute an und bauten eigenes Know-how auf. Plötzlich wurde immer kritischer hinterfragt, was wirklich etwas bringt, und vieles weggelassen.

Das war die Phase des Aufräumens. Die Branche hat sich professionalisiert und dabei kräftig aufgeräumt. Wer Maßnahmen verkaufen wollte, musste nun anhand harter KPIs beweisen, was das bringt. Die Ausbildung hat sich professionalisiert und akademisiert. Auch das eine Entwicklung, die die Augenhöhe zwischen Agentur und Unternehmen gefördert hat.

Und dann kamen die Prozesse. Aus dem „Mal-schauen-was-passiert“ wurde ein strukturierter Ablauf mit klaren Zielen, Überprüfungen, Anpassungen. Das hat auch die Arbeit in Agenturen verändert und vieles systematisiert, was früher irgendwie lief. Agenturen haben sich mehr und mehr zu „normalen“ Unternehmen entwickelt.

Das geschah nicht über Nacht, das war ein längerer Prozess. Aber er hat der Branche insgesamt sehr gutgetan.

komm.passion: In den 2000er Jahren wurde die Branche zwar digitaler, aber erst die Corona-Pandemie 2019 zwang Agenturen, wirklich anders zu arbeiten.

Alex Güttler: Corona war ganz sicher ein Brandbeschleuniger für viele Prozesse, die eigentlich schon auf der Agenda standen, aber bisher noch gerne verdrängt wurden.

Denn auch ohne Corona haben sich immer mehr Menschen gefragt: Wie kann ich arbeiten, damit es für mich passt? Dabei geht es um sehr zentrale Themen: Zum Beispiel um flexible Zeiten für Eltern – oder für alle, die für Menschen in der Familie, Kinder oder Eltern, Verantwortung übernehmen müssen. Corona hat gezeigt, dass das auch möglich ist, zum Beispiel durch Homeoffice. Während der Lockdowns war das ein Notbehelf, um den Geschäftsbetrieb aufrecht zu erhalten. Inzwischen ist es der oftmals effizientere Weg. Manche arbeiten zu Hause eben konzentrierter, ohne Bürostress, andere brauchen das Team-Umfeld in der Agentur. Der Königsweg ist ganz sicher die Mischung aus Homeoffice und Präsenz. Zwingen muss man niemanden.

Was aber entscheidend ist: Diese Art zu arbeiten erfordert neue technische Voraussetzungen und neue Strukturen: Wie vernetzt man Teams, wenn nicht alle zur gleichen Zeit am gleichen Ort sind? Genau das ist die agile, digitale Arbeitswelt. Diese Frage kam nicht erst durch Corona in die Welt. Auch der Fachkräftemangel, die Volatilität am Arbeitsmarkt und vieles andere mehr zwangen Unternehmen zunehmend, hier flexibler zu werden. Aber Corona hat sie dringlich und unaufschiebbar gemacht.

Wir bei komm.passion sind mit Corona tatsächlich sehr gut zurecht gekommen. Weil wir die Agentur bereits vor Jahren agilisiert haben und über die entsprechenden digitalen Lösungen schon verfügten.

Alex Güttler

Effizienz - Expertise schlägt Kopfzahl

komm.passion: Mit KI kommt schon der nächste Hammer …

Alex Güttler: KI ist mehr als ein Werkzeug, KI ist ein Paradigmenwechsel. Früher zählte Größe – ‚Wer ist der größte Player?‘. Heute zählt: Wer ist der klügste? Expertise schlägt Kopfzahl. Das ist die neue Phase der Effizienz.

Die harte Wahrheit ist: Was früher 10 Leute recherchierten, erledigen heute 3 mit den richtigen Prompts. Ist das effizienter? Hinzu kommt, dass auch Unternehmen merken: „Hey, das ist gar kein Voodoo!“ Sie holen Prozesse zurück ins Haus – nicht, weil sie weniger Bedarf haben, sondern weil sie anders arbeiten können.

Beratungsunternehmen stehen vor grundlegenden Herausforderungen. Sie müssen ihren unverwechselbaren Beitrag definieren, den KI nicht leisten kann. Dafür brauchen sie ein tiefes Verständnis davon, was Beratung im Kern ausmacht. Das ist nicht die Analyse von Daten, das übernimmt zunehmend die KI. Sie werden neue Aufgabenfelder besetzen, die KI nicht abdecken kann. Wie ticken Organisationen wirklich? Wo blockieren unausgesprochene Konflikte, kulturelle Muster oder öffentliche Erwartungen? Wie können technologische Entwicklungen so erzählt werden einordnen und nutzbringend hin wie kann die Vermittlung technologischer Lösungen gelingen – etwa wenn Algorithmen auf Arbeitsrealitäten oder politische Rahmenbedingungen treffen? Hier liegt der Hebel für echten Mehrwert.

Das erfordert auch neue Wege in der Ausbildung. Wir brauchen die Spezialist:innen, die Ahnung von komplexen Themen haben. Die müssen aber zugleich auch Generalist:innen genug sein, um systemische Zusammenhänge zu erkennen, die Maschinen nicht sehen. Und es wird zu neuen Formen der Kooperation kommen, bei denen die klassischen Skills mit scheinbar fernen Disziplinen zusammenkommen. Am Ende geht es nicht darum, gegen KI zu konkurrieren, sondern ihre Stärken mit menschlicher Urteilsfähigkeit zu verbinden. Wer das schafft, wird nicht nur überleben, sondern eine ganz neue Ära der Beratung prägen.

Bei Team Farner sehen wir schon, wie das funktionieren kann. Spezialisierung ist der Schlüssel: Kirchhoffs für IPOs und Reporting, GFD für Finanzen, komm.passion für Health, Change, Krise, PA. KI hilft bei den Prozessen enorm. Sie kann uns nicht ersetzen – aber sie verändert uns. Was zählt ist Expertise. Wer echte Ahnung hat, überlebt – und nutzt KI, um noch besser, schlanker und schneller zu werden.

komm.passion: komm.passion wird 25 – und ist seit zwei Jahren Teil von Team Farner. Ist mit diesem Übergang Dein Lebenswerk vollendet?

Alex Güttler: Lasst uns bodenständig bleiben, „Lebenswerk“ klingt mir zu hochtrabend. Dazu sind wir viel zu sehr Team. Aber klar: komm.passion war meine Geschichte. Und der Deal mit Team Farner war der richtige Zeitpunkt und unsere neue Führung mit Jeli und Fred das sehr glückliche Ergebnis einer langen wie guten Entwicklung. Wir alle leben dieselbe Philosophie: „Nicht fragen: Was können wir verkaufen? Sondern: Welchen Wert schaffen wir?“

Was Team Farner stark macht ist Expertise und Exzellenz. Aber wir müssen realistisch sein: Die Märkte sind zäh. Das BIP stagniert, Investitionen stocken. Und das alles nicht nur in Deutschland. Wir haben viel erreicht, bewegen uns aber in einem Markt, der sich anders entwickelt als gedacht. Jetzt zählen Kompetenz, Ausdauer und kein Verrücktmachen. Der Rest ist Geduld.

Lieblingsentscheidung: agiles komm.passion

komm.passion: Wenn Du zurückschaust, was war Deine Lieblingsentscheidung in all den Jahren?

Alex Güttler: Vielleicht die Übernahme der komm.passion-Anteile von Jochen Klewes? Einen lieben Dank an dieser Stelle für die jahrelange Begleitung. Ein finanzielles Risiko – aber das hat mir die Freiheit gegeben, letztendlich wirklich unternehmerisch zu entscheiden. Ohne das hätte es auch die Agilität nicht gegeben.

Und das war vielleicht wirklich die große, lebensverändernde Entscheidung, die Agilisierung von komm.passion. Das agile System passt in die Zeit. Weil es smart ist und uns die Möglichkeit gibt, uns schnell und flexibel auf ganz unterschiedliche Anforderungen gleichzeitig anzupassen. Weil wir immer nur flexible und hochkompetente Teams bewegen müssen. Das passt zum Markt und zu dem, was Kunden heute erwarten. 

Aber auch persönlich war das eine wichtige Entscheidung. Ich bin kein Heiliger. Ich bin oft dominant und sage gerne, wo es langgeht. Aber ich suchte einen Weg, loszulassen – ohne mich selbst zu verlieren. Agilität wurde mein Königsweg: Ich kann Führung abgeben, muss nicht alles kontrollieren. Aber wenn’s drauf ankommt – etwa als Product Owner in Projekten, die mir am Herzen liegen – dann gestalte ich mit in voller Tiefe.  Für Leute wie mich – mit diesem „Wolf im Bauch“ – ist Agilität die Rettung. Du kannst bestimmen, wenn’s nötig ist – und loslassen, wenn’s besser ist. Ohne Reue.

Am Ende war es vielleicht sogar lebenswichtig. Ich habe mich zu lange zu wichtig genommen – mit Herzproblemen als Folge. Agilität hat mich befreit und gleichzeitig enorme Energien im Unternehmen freigesetzt. Alle profitieren, das ganze Team. Die Agentur ist erfolgreicher denn je. Die Jungen können früh Verantwortung übernehmen. Und wir „Alten“ müssen nicht mehr alles tragen. Das System zwingt uns zum Loslassen, und das ist verdammt gesund.

Definitiv meine Lieblingsentscheidung: Der Umbau von komm.passion zur agilen Agentur.

komm.passion: Wir kommen zum Schluss, zu den Flop 3: Gibt es Sätze, die du nie wieder hören willst?

komm.passion: Oh ja. Platz 3: „Das gefällt uns am besten – aber das ist zu teuer.“ Ein echter Klassiker.

Platz 2: „Super Idee! Aber das müssen wir erst abstimmen…“ – und dann passiert nichts.

Und Platz 1, mein absoluter Favorit: „Wir wollen was richtig Innovatives!“ Dann präsentierst du was Neues – und die Reaktion? „Wer hat das denn schon mal so gemacht?“Genau.Innovation – solange sie bewährt ist.

komm.passion: Wenn Du auf 45 Jahre Kommunikationsberatung und 25 Jahre komm.passion zurückschaust, was macht Dich besonders glücklich?

Alex Güttler: Dass ich den Mut hatte, meine Entscheidungen für mein Leben zu treffen. Das ist mal schief und mal gut gelaufen, aber es war immer meine Verantwortung. Das ist das, was mich wirklich glücklich und zufrieden macht.