• Dossier

VOR DER EUROPAWAHL:

Der Fake-News-Import

Wie sich öffentliche Meinung und veröffentlichte Meinung oft auf Facebook unterscheiden und in welchen EU-Staaten Populisten mit welchen Themen Stimmung machen

Zwischen dem 23. und 26. Mai wählt Europa sein Parlament. Die Europäische Union – kurz EU – steht vor einer richtungsweisenden Wahl. Einer Wahl, die ihren aktuellen Kurs vollkommen in Frage stellen könnte. Wie stark werden EU-kritische Parteien im künftigen Europäischen Parlament vertreten sein? Und werden sie es schaffen, eine signifikante Mehrheit zu erreichen, mit der sie die Agenda und die Zukunft der EU völlig verändern können? Was sie auf jeden Fall – zum Teil erfolgreich – machen, ist das Themensetting. Sie besetzen Themen und Standpunkte für sich. Als Kanal dienen häufig soziale Medien wie Facebook. An und für sich eine normale und legitime Kommunikationsstrategie, die auch demokratische Parteien nutzen. Das Infame bei Populisten: Sie verkaufen Themen als scheinbares Allgemeingut, als gefühlte Wahrheit, auch wenn Fakten und Mehrheitsmeinungen eine ganz andere Sprache sprechen. Auf der anderen Seite können sie so andere drängende Themen und Probleme unter der Decke halten und die öffentlichen wie virtuellen Debatten gezielt verlagern. In den USA kamen Präsidenten so ins Amt. Inzwischen ist die Strategie auch in der EU angekommen. Wir erleben hier die Diskrepanz zwischen öffentlicher und veröffentlichter Meinung 2.0. Wo einst nur die klassischen Massenmedien wie Zeitungen eine veröffentlichte Meinung verbreiteten, tun dies heute auch semiprofessionelle Schreiber, zum Beispiel per Facebook.

Pragmatic Analytic Services (PAS), eine Initiative von komm.passion und von Data Science Consulting, legen die Strategie von Populisten anhand von KI-Algorithmen offen, die die Lebenswelten der EU-Bürger aus 27 Mitgliedsstaaten (exklusive Großbritannien) entschlüsseln. Mit ihren Likes auf Facebook offenbaren die Menschen, wer sie sind. Unverfälscht und unmittelbar. PAS bildet die neuronalen Netzwerke und das soziale Genom ab – die komplexe Lebenswelt der Fans in den sozialen Netzwerken wird so detailliert sichtbar. Sie lässt sich mit der tatsächlichen Welt außerhalb der Virtualität vergleichen. So zeigt sich: Was auf der Straße und in den Medien diskutiert wird, findet nicht zwangsläufig im Netz viele Interessenten. Was bei Facebook als „veröffentlichte Meinung“, als „mehrheitsfähige Wahrheit“, verkauft wird, muss nicht unbedingt etwas mit der Wirklichkeit, mit der „öffentlichen Meinung“, zu tun haben. Welche Strategie gerade Populisten einsetzen, hängt vom Thema und der Zielgruppe ab, die sie erreichen möchten. Zwischen den EU-Staaten herrschen zum Teil erhebliche Unterschiede.

Ein in der öffentlichen Debatte populäres Thema wie die NATO findet nur bei 2,72 Prozent der Facebook-User innerhalb der EU statt. Die Bandbreite in den Ländern reicht dagegen von 0,92 (in Frankreich) bis 31,58 Prozent (in Luxemburg). Der Eurovision Song Contest beispielsweise ist für den Großteil der Öffentlichkeit belanglos, bei Facebook dagegen diskutieren 4,01 Prozent darüber. Das sind absolut gesehen fast zehn Millionen Menschen.

Zwischen Realität und Facebook: der Klimawandel

Ein Paradebeispiel für die Diskrepanz zwischen öffentlicher und veröffentlichter (Facebook-) Meinung liefert die aktuelle Debatte um den Klimawandel, durch Greta Thunberg & Co. derzeit scheinbar in aller Munde. Tatsächlich in „aller“ Munde? Die häufig ältere Facebook-Generation scheint sich dafür nur wenig zu interessieren. In Frankreich und Polen liken nicht einmal ein Prozent der Facebook-Nutzer Klimawandel-bezogene Seiten. Selbst in Deutschland sind es nur 400.000 Nutzer und damit gerade einmal 1,05 Prozent. Lediglich in Staaten wie Finnland, die schon jetzt direkt vom Klimawandel betroffen sind, scheint das Interesse größer. Denn: In Finnland steigt schon heute die Durchschnittstemperatur merkbar an, schneller als in allen anderen Ländern weltweit. Was die Finnen dadurch nicht mehr können: den Klimawandel ignorieren. Viele andere Staaten offenbar schon. Die Frage bleibt: Ist uns der Klimawandel also eigentlich doch egal? Nein. Der Klimawandel ist uns nicht egal, aber die Debattenebene verschiebt sich. Zum einen ist Facebook bei demonstrierenden Schülern als Kanal nicht populär. Zum anderen überlagert der Kommunikationshype rund um Greta derzeit die tatsächliche Diskussion. Schuleschwänzen an den Fridays for Future steht mehr in der öffentlichen Kontroverse als die Erderwärmung selbst. Damit lenken Populisten von den eigentlichen Themen ab. Eine typische Kommunikationsstrategie vor Wahlen.

Sozialdemokratie vor dem Aus

Beispiel Sozialdemokratie: Nicht nur in Deutschland verlieren die Sozialdemokraten immer mehr Wähler. Auch in anderen EU-Staaten wandern viele zu (rechts-)populistischen Parteien ab. In Ländern wie Bulgarien oder Finnland diskutieren auf Facebook weniger als 1,9 Prozent der Nutzer über sozialdemokratische Ideen. Auch Deutschland erreicht ein deutliches Tief: Von 38 Millionen Facebook-Nutzern heben nur 1,2 Millionen ihren Facebook-Daumen für die Sozialdemokratie. Wenn die SPD hierzulande so wenig die Macht der sozialen Medien nutzt, um ihre ohnehin schwindende Zielgruppe zu erreichen, verschenkt sie Potenzial.

Diskussion über Einwanderung und Homoehe? Ja, aber nicht auf Facebook

Zwei weitere heiße Eisen: Einwanderung und gleichgeschlechtliche Ehe. Beides wird kontrovers diskutiert – zumindest in den Medien, auf der Straße und beim Abendessen mit Freunden und Familie.

Die sogenannte „Flüchtlingskrise“ ist noch nicht allzu lange her. Im Facebook-Netz spielt sie nur eine untergeordnete Rolle. In Deutschland diskutieren gerade 1,11 Prozent der Nutzer über Einwanderung und die Einwanderungspolitik. Ähnlich in Frankreich mit 1,29 Prozent. In unseren Nachbarländern, den Niederlanden und Polen, sind es sogar nur 0,38 beziehungsweise 0,36 Prozent – und damit die wenigsten Facebook-Nutzer in der gesamten EU. Dabei fährt vor allem Polens Politik einen sehr harten Kurs in der Einwanderungspolitik. Nur in wenigen EU-Staaten – mit Dänemark, Finnland, Malta, Ungarn und Zypern gerade einmal fünf – beschäftigt das Thema mehr als drei Prozent der Nutzer. Eine geringe Zahl, bedenkt man, dass beispielsweise Malta und Zypern direkte Anlaufstellen für Flüchtlingsboote darstellen und beide Länder im Verhältnis zu ihrer Einwohnerzahl überdurchschnittlich viele Flüchtlinge aufgenommen haben.

Bei den polarisierenden Themen „Homosexualität“ und „Ehe für alle“ wird es noch deutlicher. Die Spitzenwerte erreichen die Slowakei mit gerade einmal 1,25 Prozent der Facebook-Nutzer und Irland mit 1,13 Prozent. Weder in Staaten wie Irland, in denen die Ehen zwischen homosexuellen und heterosexuellen Paaren gleichgestellt sind, noch in solchen wie der Slowakei, in denen sich die Politik weiterhin verweigert, gleichgeschlechtliche Partnerschaften anzuerkennen, findet bei Facebook eine lebhafte Diskussion statt. So schenken dem Thema in Dänemark, dem weltweit ersten Land mit eingetragenen Lebenspartnerschaften, nur 0,09 Prozent der Nutzer – weniger als 4.000 von 4,1 Millionen nationalen Facebook-Usern – ihre Aufmerksamkeit. Gleichzeitig aber auch in einem Land wie Polen, das bis heute die gleichgeschlechtliche Partnerschaft in keiner Weise anerkennt, ebenfalls nur 0,09 Prozent.

Der Abgleich mit der Wirklichkeit macht die Analyse interessant: Weder in Polen noch in Dänemark spielen Homosexualität und gleichgeschlechtliche Ehe eine wesentliche Rolle in den auf Facebook abgebildeten Lebenswelten der Menschen. Doch in Polen gelingt es erzkonservativen Kreisen, das Thema gezielt klein zu halten, während es in Dänemark trotz rechts-konservativer Regierung längst State of the Art und gelebter, selbstverständlicher Alltag geworden ist, den man nicht in Frage stellen muss.

Obama und die Weltwirtschaftskrise

Was uns die Facebook-Welten der Nutzer aller EU-Mitgliedstaaten kurz vor der Europawahl noch verraten? Wirtschaftliche Themen und die Weltwirtschaftskrise finden in diesem sozialen Medium kaum statt. Für lediglich 3,5 Millionen Menschen spielen sie eine Rolle. Verschwindend wenig. Zum Vergleich: Die Nach-Brexit-EU hat 446 Millionen Einwohner, auf Facebook sind davon rund 247 Millionen aktiv.

Fun Fact: Barack Obama und die Weltwirtschaftskrise stehen in direktem Zusammenhang. Obamas Facebook-Fans diskutieren stärker über die Weltwirtschaftskrise als Anhänger von Donald Trump. In den europäischen Trump-Hochburgen, zum Beispiel in Österreich, wollen sie nichts von einer „Krise“ wissen.

Obamas EU-Fans sitzen vor allem in Bulgarien, Dänemark, Estland, Litauen, Luxemburg, Schweden und Ungarn (mit seinen sehr strengen Mediengesetzen). In Litauen sind sogar 17 Prozent der Facebook-User Obama-Fans. 14 Prozent setzen sich mit der Weltwirtschaftskrise auseinander – EU-weit zweimal Platz eins.

Das Trump-Paradies Österreich kümmert – zumindest bei Facebook – die Weltwirtschaftskrise nicht: Nur jeden 500. Facebook-Nutzer beschäftigt sie – EU-Tiefstwert auf der Plattform. Die Einwanderungs-Agenda überlagert in der Alpenrepublik die anderen Bereiche. Das spiegelt sich in der öffentlichen Debatte wider, das zeigt auch das Wahlverhalten in Österreich. Hier gelang es den konservativen Regierenden, ihre Themen auch in den sozialen Medien zu besetzen.

Die veröffentlichte Welt der klassischen Medien, ob im Off- oder Online-Bereich, war und ist immer nur eine versuchsweise Annäherung an die öffentliche Meinung. Das ist bei Social Media – hier untersucht bei Facebook – genauso, wenn nicht sogar noch stärker in den einzelnen Filterblasen. Was schon die alten Griechen wussten, spiegelt sich in Social Media sehr stark wider: Wir reden nicht über Tatsachen, sondern über Meinung und meistens über die Meinungen über die Meinung.

Social Media, und hier Facebook, können jedoch Meinungen beeinflussen. Social Media helfen, Themen zu steuern, diese zu verstärken oder eher aus der Debatte zu nehmen. Darüber hinaus folgt der Diskurs auf Facebook gerne Modewellen. Sie unterscheiden sich von Land zu Land und sind von politischen wie gesellschaftlichen Strömungen abhängig. Dass die jeweilige Weltsicht dann die Themenwahl bestimmt, zeigt das Trump- und Obama-Beispiel überdeutlich.

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