• Dossier

Wenn aus Zielgruppen echte Menschen werden

Emotional Territories

Love Brands, Emotional Branding, Neuromarketing, limbisches System. Der Mensch ist kein rationaler „homo oeconomicus“. Daher versuchen nahezu alle Unternehmen, Gefühle zu erforschen, um sie für ihre Zwecke nutzbar zu machen. Aber wie gelingt das eigentlich so, dass aus emotionalen Bedürfnissen sinnvolle Kommunikation wird? Ein Gespräch mit Thomas Walter, Inhaber der Businessberatung Supersieben und Erfinder/Entwickler des Tools „Emotional Territories“ – ein Algorithmus, mit dem im Auftrag von Unternehmen und Institutionen Werte und Emotionen gemessen werden.

  • Thomas Walter
    Supersieben
  • Tobias Bruse
    komm.passion

Tobias: Thomas, wie kommt man auf die Idee, Werte und Emotionen zu messen?

Thomas: Da gibt es mindestens drei Gründe. Jeder einzelne Grund würde schon reichen, mehr über Werte und Emotionen wissen zu wollen. Alle zusammen machen das Wissen zum Pflichtprogramm:

  1. Werte machen wertvoll. Das ist weit mehr als ein Wortspiel. Wenn Marken es schaffen, einen Preis durchzusetzen, der in einzelnen Fällen mehr als das Tausendfache des eigentlichen Materialwerts beträgt[1], dann nur deswegen, weil sie für Werte stehen, die den Menschen lieb und teuer sind. Man spricht nicht umsonst vom „Mehrwert“ einer Marke.
  2. Menschen unterscheiden sich mehr durch ihre Werte als durch ihre Demografie: Seit Anbeginn des Marketings, versuchen wir, Menschen durch äußere Merkmale in Gruppen einzuteilen: Alter, Geschlecht, Ausbildung, Einkommen usw. Das hat noch nie gut funktioniert, aber spätestens seit dem sogenannten „hybriden Konsumenten“ funktioniert es so gut wie gar nicht mehr. Was uns verbindet, sind nicht die äußeren Merkmale, sondern die inneren Werte. Wir leben in Gruppen mit Menschen, die an das gleiche glauben, selbst wenn sie nicht die gleiche Haarfarbe haben. Gemeinschaften sind immer Wertegemeinschaften.
  3. Werte wirken, wo Argumente versagen. Selbst (oder vielleicht sogar gerade) komplexe Entscheidungen werden „aus dem Bauch“ getroffen. Nur in den wenigsten Fällen erheben wir vor dem Kauf eines Produkts ein Anforderungsprofil und vergleichen es mit den Leistungsmerkmalen des Produkts. Eine Entscheidung muss nicht unbedingt richtig sein, solange man sich mit ihr wohl fühlt. Werte und Emotionen bestimmen Entscheidungen.

 

Tobias: Klingt soweit logisch. Und spätestens seit Daniel Kahnemans „Thinking Fast and Slow“ wissen wir, wie wichtig Emotionen in der (Kauf-)Entscheidung sind. Man würde also annehmen, dass es diverse Tools gibt, um genau das zu messen. Warum brauchte es eine eigene Methode?

Thomas: Weil wir keine gefunden haben, die praxistauglich ist. Ein Beispiel sind die viel zitierten Hirnscans des Neuromarketings. Damit kann man zwar messen, dass ein Mensch etwas fühlt. Aber nicht annähernd exakt genug, was genau. Mit einem fMRT konkrete Emotionen zu beschreiben, ist in etwa so, als ob man den Verlauf eines Fußballspiels rekonstruieren würde, indem man ein Thermometer aufs Stadiondach legt. Was dabei rauskommt ist bestenfalls rudimentär. Damit kann niemand arbeiten.

 

Tobias: Was heißt praxistauglich in dem Kontext?

Thomas: Der:Die Verantwortliche einer Marke – z. B. einer Sportschuhmarke – muss erkennen können, was seine Marke von der Konkurrenz unterscheidet. Natürlich stehen alle diese Marken für Sportlichkeit, Leistung und Erfolg. Aber es gibt haarfeine Nuancen, die in der Realität einen Riesenunterschied ausmachen. Das ist dann der Unterschied zwischen Nike und Puma. Und den sollte man als Verantwortliche:r extrem genau kennen, um ihn bewusst in Kommunikation zu nutzen.

Emotionale Landkarte für Bier

Tobias: Jetzt bin ich gespannt auf eure Methode. Wie sieht der Emotional Territories Ansatz aus? Was macht ihn genauer und differenzierter?

Thomas: Emotional Territories ist ein dynamisches System, kein starres.  Wir befragen mindestens 1.000 Testpersonen aus der definierten Zielgruppe. Wir setzen ihnen ein wissenschaftlich validiertes Set von 52 Werten und Emotionen in Form einfacher Begriffe vor – von Abwechslung bis Zuversicht. Wir stellen eine einfache Frage („Fühlen Sie diese Emotion, wenn sie an XY denken? – Ja oder Nein“) Aus den über 50.000 Datenpunkten ermittelt der Algorithmus die Werte und Emotionen, die besonders nahe beieinander liegen.  So entsteht pro Forschungsprojekt eine „Emotionale Landkarte“, die aus 5-10 Wertefeldern besteht, die ihrerseits zwischen 3 und 15 Werte und Emotionen enthalten.

 

Tobias: Das musst du bitte noch einmal verdeutlichen. Wie sieht das konkret aus?

Thomas: Ein Beispiel: Wir wissen, dass Menschen Bier in hohem Maß mit „Freundschaft“ verbinden. Durch Emotional Territories wissen wir aber zusätzlich, dass „Freundschaft“ im Falle von Bier in direkter Nachbarschaft zu „Unbeschwertheit“, „Selbstbestimmung“, „Spontanität“ steht. Das gibt der Bierfreundschaft eine besondere Qualität. Eben das leichte, kumpelhafte Gefühl, das für Bier typisch ist. Im Gegensatz dazu steht der Begriff Freundschaft, wenn es z. B. um Streetwear geht. Dort befinden sich Werte wie Verantwortung, Respekt, Herausforderung und Gerechtigkeit im direkten Umfeld. Das lässt sich mit dem Szenebegriff „Bro-Gefühl“ am treffendsten beschreiben. Theoretisch können wir so 1032 Gefühlsausprägungen unterscheiden. Das ist genau und differenziert genug, um in der Praxis damit zu arbeiten.

 

Tobias: 1032? Das sind ohne zu rechnen sicher ein paar Milliarden Kombinationen. Ist das in der Praxis dann tatsächlich händelbar?

Thomas: Jede Emotionale Landkarte enthält ja nur die Werte- und Emotionskombinationen, die für die jeweilige Marke/Kategorie relevant sind. Das sind je nach Projekt die erwähnten 5-10 Wertefelder. Wichtig für die Praxis ist aber, dass ein Tool in der Lage ist, auch feinste Unterschiede zu messen. Im Prinzip wie bei einer Kamera: Unsere „Gefühlskamera“ hat eine Auflösung von 1032 Pixeln – und nicht nur 5 oder 7 wie z. B. im Neuromarketing. Die hohe Zahl macht das Ergebnis also händelbarer.

Im Fokus: Freundschaft im Kontext Bier

Tobias: Wir bleiben bei Praxis – an welcher Stelle kommt der Begriff „Landkarte“ ins Spiel?

Thomas: Die Emotionale Landkarte ist prinzipiell das Gleiche wie eine echte Landkarte: Man kann damit beginnen, den eigenen Standort zu erkennen und zu verstehen – welche Werte und Emotionen besetzt die eigene Marke in den Augen bzw. den Herzen der Zielgruppe? Das unterscheidet sich oft von der geplanten Markenpersönlichkeit. Viele unsere Kund:innen nutzen das Tool auch zur Zielbestimmung, um bei einer Neugründung oder einem Relaunch genau zu verstehen, welche Werte im Markt relevant sind, welche sich zur Differenzierung eignen und welche reine Hygienefaktoren sind.

 

Tobias: Das sind eher allgemeine Anwendungen, gibt es auch spezielle für eine Marke, die schon ihre Positionierung gefunden hat?

Thomas: Durch die differenzierten, sehr spezifischen Ergebnisse liefert Emotional Territories oft Ansatzpunkte für konkrete Maßnahmen: Das kann das Briefing für eine TV-Kampagne sein, die bestimmte Gefühle auslösen soll. In einem Fall war es der Gesprächsleitfaden für den technischen Ausdienst. Wir hatten für einen Computerhersteller gemessen, mit welche Werten und Emotionen man IT-Entscheider:innen am effektivsten ansprechen kann. Die allerkonkreteste Anwendung ergab sich bei einem E-Commerce-Unternehmen. Die für seine Produkte entscheidenden Werte und Emotionen wurden in Form einfachster Formulierungen in Google Ads eingebaut (z. B. wurde aus „Ambition“ der Satz „Zeig, was in Dir steckt!“). Das Ergebnis im A/B-Test war eine Erhöhung der CTR. Übers Jahr konnte man so einen siebenstelligen Betrag einsparen.

 

Tobias: Was war das Spannendste, das du bisher gemessen hast?

Thomas: Vor der letzten Bundestagswahl haben wir Wahlberechtigte gefragt, wie sich der perfekte Bundeskanzler anfühlt. Man konnte ziemlich gut sehen, warum Olaf Scholz am Ende die Nase vor Armin Laschet hatte.

 

Tobias: Auf Basis der Emotionalen Landkarte? Wie sah das konkret aus?

Thomas: Wir konnten – nach absteigender Wichtigkeit sortiert – diese Gefühle identifizieren, die einen idealen Kanzler ausmachen: der Powertyp, der gewissenhafte Typ, der Optimist, der Beharrliche, offen und ohne Vorbehalt, Charakterkopf, sich selbst unter Kontrolle haben, der Patriot, der Kümmerer, der Innovator, der Leidenschaftliche, der Teamplayer.

Wenn man die damals zur Auswahl stehenden Kandidaten nach diesen Kriterien bewerten ließ, war Olaf Scholz im Ranking etwas vor Armin Laschet. Allerdings waren beide weit hinter Angela Merkel, die wir aus Interesse einfach mitgetestet hatten.

 

Tobias: Und jetzt noch die Frage, die vermutlich immer kommt: Wie lang dauert solch eine Untersuchung und was kostet sie?

Thomas: Die Antwort, die dann immer kommt: Kommt darauf an. Und zwar auf die jeweilige Zielgruppe. Normalerweise liegt das Ergebnis nach drei Wochen vor. Der budgetäre Aufwand ist abhängig vom entsprechenden Rahmen. Aber: Es kostet weniger, als man vielleicht denkt.


[1] Ein Liter Wasser kostet – wenn er aus der Leitung kommt – ca. 0,002ct. Als Markenprodukt „Fiji Water“ zahlt man 3,58€ dafür.

Ansprechpartner

Das könnte Sie auch interessieren: